FachwissenTitelmeldung

Wie Energieversorger dynamische Tarife mit ihren Ausreden bremsen

Dynamische Tarife sind ein entscheidender Hebel, um Flexibilität im Stromnetz zu schaffen, Verbraucher aktiv in die Energiewende einzubinden und diese langfristig voranzutreiben. Doch viele Energieversorgungsunternehmen ignorieren ihr Potenzial bewusst und verstecken sich lieber hinter Ausreden.

Im Jahr 2024 deckten erneuerbare Energien rund 55 Prozent des Bruttostromverbrauchs in Deutschland – ein Anstieg von zwei Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahr. Mit dem wachsenden Anteil erneuerbarer Energien und einer weiter steigenden Elektrifizierung nimmt auch die Volatilität der Stromversorgung zu. Dynamische Stromtarife schaffen dabei einen klaren Anreiz für Haushalte, ihren Stromverbrauch in günstige und grüne Stunden zu verlagern, sodass sie nicht nur Geld sparen, sondern auch die Umwelt schonen und das Energiesystem entlasten. Auf diese Weise entwickeln sich dynamische Tarife zu einem zentralen Baustein der Energiewende.

Auch der Gesetzgeber teilt diese Ansicht: Seit Beginn dieses Jahres sind Energieversorgungsunternehmen in Deutschland per §41a EnWG zur Einführung dynamischer Stromtarife verpflichtet. Eine gesetzliche Vorgabe, die bereits seit der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes im Sommer 2021 bekannt ist. Dennoch zeigt unsere Erfahrung bei exnaton, dass viele Energieversorger erst im Sommer 2024 begonnen haben, sich ernsthaft mit der Umsetzung zu befassen.

Die Folge? Viele Anbieter konnten die Frist nicht einhalten und stehen auch nach dem Stichtag ohne tragfähige Lösungen da. Die scheinbaren Gründe dafür sind vielfältig: von Herausforderungen in der technischen Umsetzung über strategische Hürden bis hin zur fehlenden Infrastruktur – Stichwort Smart-Meter-Rollout. Es wird deutlich, dass die Einführung dynamischer Stromtarife zur Erfüllung der gesetzlichen Vorgaben tiefgreifende Anpassungen in den Prozessen und Strukturen der Energieversorger erfordert. Vor allem aber wirft ihr zögerliches Handeln ein kritisches Licht auf die Prioritätensetzung der Branche.

Ausrede 1: Technische Umsetzung – zu komplex und wirtschaftlich nicht tragbar
Dynamische Stromtarife gemäß §41a EnWG sind unmittelbar an die aktuellen Marktbedingungen gekoppelt und spiegeln kontinuierlich Angebot und Nachfrage wider. Ziel ist es, Preisanreize so zu setzen, dass Strom dann günstig ist, wenn er dank erneuerbarer Energien reichlich vorhanden ist. Der einzelne Haushalt kann also durch einen gezielten Stromverbrauch die eigene Stromrechnung um einige Hundert Euro senken.

Während bei herkömmlichen Tarifen lediglich ein Fixpreis mit dem Gesamtverbrauch des Jahres multipliziert wird, verlangen dynamische Tarife eine feingranulare Verbrauchserfassung in 15-Minuten-Intervallen. Pro Haushalt entstehen also statt einer einzigen jährlichen Ablesung des Stromzählers rund 35.000 Verbrauchsdatenpunkte pro Jahr, die erfasst und abgerechnet werden müssen – eine gewaltige technische Umstellung, der bestehende ERP-Systeme nicht gewachsen sind.

Doch das eigentliche Problem liegt tiefer, denn so mancher ERP-Anbieter rät Energieversorgern sogar, dynamische Tarife als wirtschaftlich unzumutbar einzustufen. So wiederholt sich ein altbekanntes Muster der heimischen Energiebranche: Marktteilnehmer blockieren Innovationen und ersticken Fortschrittsideen im Keim.

Innovative Software für transparente Visualisierung und Automatisierung

Selbst wenn ein heutiges ERP-System die technischen Herausforderungen der Abrechnung bewältigt, bleibt das Problem der Visualisierung bestehen. Denn das Sparpotenzial dynamischer Tarife steht und fällt mit der Verständlichkeit der Preisdaten und der Möglichkeit, Geräte nach diesen Preisen automatisiert zu steuern. Verbraucher benötigen strukturierte Kundenportale, die 24-Stunden-Preisinformationen, historische Daten und Prognosen verständlich aufbereiten, um die Veränderungen am Markt nachvollziehen zu können und um ihren Verbrauch entsprechend anzupassen.

Hier setzt innovative Software an: Sie schafft nicht nur die Basis für eine transparente Visualisierung, sondern ermöglicht zugleich eine smarte Automatisierung von Verbräuchen. Ob beim intelligenten Laden von Elektroautos, der Steuerung von Wärmepumpen oder der Automatisierung anderer Anlagen – gezielte Steuerungsfunktionen sind unverzichtbar, um Lastspitzen zu vermeiden und Kosten effizient zu senken.

Damit die Idee dynamischer Tarife ihre praktische Wirksamkeit nicht verliert, benötigen digitale Kundenerlebnisse also ein grundlegendes Update. Transparente, intuitive und benutzerfreundliche Visualisierungen, Echtzeit-Benachrichtigungen und die Integration mit Stromgeräten spielen eine wesentliche Rolle für die Akzeptanz und das Vertrauen gegenüber dynamischen Tarifen unter den Verbrauchern.

Aufklärung als Schlüssel zum Erfolg

Eine transparente Visualisierung allein reicht nicht aus, um Verbraucher zu überzeugen. Laut Umfragen steigt das Interesse an dynamischen Stromtarifen zwar, doch gleichzeitig offenbaren sich gravierende Wissenslücken. Viele Verbraucher sind mit der Funktionsweise und den Vorteilen dynamischer Tarife kaum vertraut. Ohne gezielte Aufklärungsarbeit bleibt das Konzept schwer zugänglich und die Bereitschaft zur Nutzung gering. Energieversorgungsunternehmen stehen vor der Aufgabe, durch einen umfassenden Wissenstransfer Hemmschwellen abzubauen und Vertrauen zu schaffen. Nur die Kombination aus gezielter Aufklärung, einem klaren Werteversprechen und visueller Transparenz kann das volle Potenzial dynamischer Tarife entfalten.

Ausrede 2: Smart Meter als Voraussetzung für dynamischen Tarif

Während Deutschland bei den erneuerbaren Energien fortschrittlich unterwegs ist, ist es beim Smart-Meter-Rollout absolutes Schlusslicht in Europa. Um die erwähnten Verbrauchsdatenpunkte für die Abrechnung der dynamischen Stromtarife zu erfassen, sind intelligente Messsysteme notwendig. Bisher haben jedoch nur wenige Haushalte diese Technologie.

Nicht zuletzt liegt das am Gesetzgeber, der den Rollout technisch komplexer gestaltet als notwendig. In jüngsten Initiativen, wie „Simplify Smart Metering“, fordern namhafte Akteure und Unternehmen die Vereinfachung und Beschleunigung des Rollouts.

Übergangslösungen statt Stillstand

Während fehlende Smart Meter ohne Zweifel ein Hindernis bei der Schaffung von Flexibilität sind, schließen sie jedoch dynamische Stromtarife nicht aus. Selbst ohne intelligentes Messsystem können Energieversorgungsunternehmen diese über Standardlastprofile (SLP) als Übergangslösung anbieten, bis Smart Meter flächendeckend installiert sind.

Statt auf infrastrukturelle Perfektion zu warten, liegt es an Energieversorgungsunternehmen, bestehende Möglichkeiten zu nutzen und alternative Lösungen zu entwickeln, um dynamische Tarife auch unter den aktuellen Bedingungen anzubieten. Neo-Utilities wie Tibber, 1Komma5 und Enpal machen es klassischen Energieversorgungsunternehmen vor. Mit kreativen Eigenlösungen bieten sie dynamische Stromtarife bereits an, agieren als wettbewerbliche Messstellenbetreiber am Markt und bringen etablierte Energieversorgungsunternehmen damit zum Bangen um ihre Bestandskunden.

Mehrwerte erkennen, Vorsprung sichern

Energieversorgungsunternehmen, die über die bloße Erfüllung gesetzlicher Vorgaben hinaus denken, können sich einen entscheidenden Vorsprung sichern. Sie öffnen die Türen für innovative Ansätze wie Demand-Side-Management, intelligentes Laden von Elektrofahrzeugen und die gezielte Nutzung von Flexibilitäten (z.B. aus Batterien). Dadurch können sie nicht nur neue Geschäftsfelder erschließen, sondern auch ihren Kunden echten Mehrwert bieten. Unternehmen, die frühzeitig in solche zukunftsorientierten Technologien investieren, positionieren sich als Vorreiter der Energiewende und sichern sich langfristig Wettbewerbsvorteile.

Kurzum: Die Herausforderungen sind bekannt – technische Hürden, personelle Engpässe und ein stockender Smart-Meter-Rollout. Doch mit potenten Softwarelösungen und entschlossenem strategischem Handeln können diese Hindernisse überwunden werden. Wer sich weiterhin hinter Ausreden oder veralteten Systemen versteckt, verspielt die Chance, die Transformation des Energiemarktes und die Energiewende aktiv mitzugestalten. Dynamische Tarife sind weit mehr als eine regulatorische Pflicht und bilden den Schlüssel zu einem modernen, nachhaltigen Energiesystem.


Autorin: Dr. Liliane Ableitner ist CEO des Klima-Tech-Unternehmens exnaton, welches sie 2020 gemeinsam mit Kollegen nach ihrem Doktorat in Wirtschaftsinformatik an der ETH Zürich gründete. exnaton entwickelt eine gleichnamige KI-Abrechnungsplattform, welche Energieversorger bei der Abrechnung erneuerbarer Energien auf Basis hochauflösender Smart-Meter-Daten unterstützt. Mit der Software können Versorger innovative Energiedienstleistungen wie dynamische Stromtarife, lokale Energiegemeinschaften und EV Smart Charging und mehr anbieten. Für ihre unternehmerischen Leistungen wurde Liliane Ableitner auf die Forbes 30 under 30 Liste aufgenommen und war 2022 Speaker bei TEDxZurich.